Texte zur Kunst, September 2009
DER
GESCHMACK REGIERT DIE GENE
Eine e-mail-Konversation zwischen Helmut Draxler und Michael Krebber
Helmut Draxler: Michael, Geschmack ist ein seltsamer Begriff, der jedem
irgendwie peinlich ist und den doch jeder voraussetzt. Wie würdest du dein
Interesse an diesem Begriff oder deinen Zugang zu ihm beschreiben: eher
positiv, als eine Kunst, interessante Dinge auszuwählen, Unterscheidungen zu
treffen und sich von diesen Entscheidungen auch lebenspraktisch treiben zu lassen,
oder eher negativ in dem Sinn, dass Geschmack für die immer schon getroffenen
Entscheidungen anderer steht, gegen die man sich auflehnen muss?
Michael Krebber: Ich glaube, dass ich so etwas meine wie es Susan Sontag in den
ersten zwei Seiten von „Notes on Camp“ beschreibt: Den Geschmackssinn mit
Herablassung zu behandeln hieße, sich selber mit Herablassung zu behandeln,
denn der Geschmack regiere jede menschliche Reaktion. Aktion würde ich hier
eigentlich gern dazu tun, aber da weiß ich selber nicht genau, was das hieße.
Reaktion stimmt ja wahrscheinlich. Susan Sontag erwähnt auch das späte 17. und
das 18. Jahrhundert als große Zeit von camp und eben Geschmack. Ich habe noch
eine Sammlung eigener Notizen aus einer Oswald Wiener-Vorlesung über Geschmack
und camp, denen ich nie nachgegangen bin, weil es mir so bisher eigentlich
reichte. Am Anfang steht dort die Frage, was der Begriff überhaupt bezeichnet
und dann „taste“ in englischer Sprache und „tasten“ und so weiter ... Auch wie
aus Geschmack im Sinne der Sinnesorgane der gute Geschmack wurde, das
vorbildliche Urteil. Das geht dann weiter bis zur Konjunktur des Begriffes im
17. bzw. 18. Jahrhundert. Ich benutze das Wort Geschmack nicht in einem
bestimmten Sinn, sondern immer so wie es mir gerade passt, aber auf jeden Fall
auch als etwas, das quasi in den Genen angelegt ist, wie ein Daumenabdruck, und
ich benutze das Wort wirklich oft. Ich höre mich oft sagen, dass ich etwas gut
fände, nach meinem Geschmack, wenn ich versuche vorsichtig zu sein. Mit diesem
Zusatz fühle ich mich sicherer.
Draxler: Das klingt ja schon eher nach einem positiven Bezug zum Geschmack. In
unserem Gespräch soll es ja nicht unbedingt darum gehen, die historische
Wahrheit über den Begriff herauszubekommen, sondern nach Möglichkeiten des
Umgangs mit ihm zu forschen, was eben schwierig ist, weil es sich um eine
höchst ambivalente Sache handelt. Würdest du dich eher auf der Seite des guten
Geschmacks ansiedeln? Geht es dir darum, den Geschmack zu kultivieren, dass
heißt immer feinere Unterscheidungen zu treffen, oder bist du auf der Seite des
schlechten Geschmacks, der doch für viele Künstler wie etwa Martin Kippenberger,
Paul Thek, Mike Kelly und viele andere eine so wichtige Ressource darstellt.
Hast du etwas mit „Bad Painting“ im Sinn?
Krebber: Ich hab meine Notizen über die Geschichte des Begriffs vielleicht auch
nur hier liegen, weil es darin um eine Konjunktur geht. Ich möchte mich ja
lieber auf allen Seiten ansiedeln außer auf der des „Bad Painting“. Ich
habe auch gerade über „Bad Painting“ in der Zeitung „May“ etwas geschrieben im
Zusammenhang mit Magrittes „periode vache“ und beim Thema „Bad Painting“ wird
es auch sofort um das Historische daran gehen. Was da wann wie welche
Konjunktur hatte, welche Personen involviert waren und an was die gedacht haben
und auch wie so ein Wort kreiert wurde und wann es wieder eine Konjunktur
hatte. Kippenberger mochte Léger gerne, ich hab es ihm jedenfalls geglaubt.
Diese zwei Dinge, den Geschmack zu kultivieren und der gute Geschmack auf der
einen Seite und auf der anderen Seite einfach guter Geschmack – ich muss ja
selber lachen – das muss doch zu verstehen sein! Ich könnte jetzt alleine
weiter machen, ich gebe einfach ab an dich, aber ich werde auf alles eingehen.
Draxler: Das verstehe ich schon, dass dir das „Bad Painting“ nicht so liegt.
Das war ja auch eine Fangfrage! Andererseits hat der schlechte Geschmack schon
auch seinen Reiz – siehe camp. Aber dabei geht es ja darum, wie der schlechte
Geschmack zum guten werden kann, und der gute natürlich auch zum schlechten.
Aber das wäre ja tatsächlich hoffnungslos, wenn es immer so weiter ginge. Wenn
die Gene im Geschmack liegen, wie du sagst, dann kann man eine solche
"ästhetische Toleranz" (Adorno) doch nicht hinnehmen, da müssen doch
einfach mal klare Aussagen oder Kriterien her, oder?
Krebber: Auf die Ebene möchte ich ja gerade hinweisen, darauf, dass von dort
aus wirklich alles regiert wird; und es sind nicht mal bloß Vorstellungen und
auch nicht bloß Erziehung, sondern natürlich ein Mix aus allem, ein quasi
genetischer Daumenabdruck inklusive, der schwer "kultiviert" wird.
Aber das machen auch alle auf allen Geschmacksseiten und mal ist dieses
Kultivieren schön – nach meinem Geschmack – und mal ist es hässlich. Ich kann
aber keine klaren Aussagen und Kriterien formulieren. Das sind Allgemeinplätze
hier von meiner Seite. Ich kann bloß versuchen, mich denjenigen, die ich
ansprechen möchte, eindeutig gegenüber zu verhalten. Sonst kann das ja nichts
werden. Jetzt bin ich eigentlich in der Kurve gelandet, in der Eltern ihrem
Kind zeigen, was schön ist und was nicht. Da habe ich den Satz auch her: „Sonst
kann das nichts werden“, und da wird ja auch eine erste Vorstellungen von gutem
Geschmack geprägt. Aber wenn es dann in Richtung „prädikat wertvoll“ geht,
diesem Qualitätsabzeichen für besonders wertvolles Spielzeug, kann man meinem
Geschmack nach natürlich falsch liegen. Dann ginge ich zum Beispiel auf die
John Waters-Seite. Was für einen guten Geschmack man haben muss, um einen
schlechten zu haben oder so ähnlich. Das ist jetzt falsch zitiert, aber es ist
doch sehr gut so, denn dann befindet man sich auch hier in einem labilen
Gleichgewicht. Es ist wie beim Rückwärtsfahren mit Anhänger – wer die Erfahrung
gemacht hat, kennt es – das ist so ähnlich wie Balancieren: Die Dosis oder
Stärke und Schnelligkeit der Bewegung bestimmen die Richtung, in die der
Anhänger sich bewegt. Also nach links tippen kann nach rechts oder links
führen, je nachdem.
Draxler: Ist der Geschmack für dich eigentlich der gleiche, wenn du Kunst oder
wenn du Klamotten, Platten, Autos, Hunde oder Lebensstile beurteilst? Gibt es
also einen Geschmack oder viele Geschmäcker? Und worin könnten die Unterschiede
in der Herangehensweise liegen?
Krebber: Ich hab nur einen, jedenfalls, was diesen Daumenabdruck angeht. Wenn
jemand sich ernsthaft verschiedene Geschmäcker eingerichtet hätte, dann ginge
das vielleicht in Richtung relational oder offene Diskurse oder mit den Stimmen
anderer sprechen oder einfach in Richtung lifestyle und Interessantsein? Oder
man spielt jemanden, wie ich versuche ihn oder sie hier zu beschreiben.
Experimente finde ich allerdings gut – auf eigene Gefahr.
Draxler: Hat dieses Balancieren, wie du es vorhin beschrieben hast, vielleicht
etwas mit der Mäßigung zu tun, die traditionell dem guten Geschmack
zugeschrieben wird? Denn nur die Neureichen und die Nerds prahlen mit ihren
Schätzen. Geht es um ein Gleichgewicht in der Lebensführung, um ein Abwägen
moralischer und ästhetischer Aspekte oder eben bloß darum, sich nicht festlegen
zu lassen? Wie siehst du die Figur des Dandys in dieser Hinsicht. Ist das
jemand, der die Mäßigung zum Exzess treibt?
Krebber: Nein, das Balancieren hat nichts mit Mäßigung zu tun, sondern das
Feld, das wir hier besprechen, ist eines von gemischten Komplikationen und die
müssen balanciert oder kontrolliert oder eben nicht kontrolliert werden. Die
Neureichen und die Nerds prahlen mit ihren Schätzen. Ich bin ja leider manchmal
auch ein bisschen so ein Nerd. Die Hässlichkeit lauert in jeder Ecke! Es gibt
doch diesen Satz von Karl Kraus, dass man sich gar nicht vorstellen könne, wie
viel Hässlichkeit durch die Beschäftigung mit der Schönheit entstehe. Ein Dandy
wird eher maßlos mäßig sein als maßlos, aber da kann man auch keine Regel draus
machen. Ein Abwägen moralischer und ästhetischer Aspekte, da kann ich mir etwas
drunter vorstellen, das mit gutem Geschmack zu tun hätte. Aber ich kann es
nicht wasserdicht formulieren. Bücher mit solchen Themen haben ja die
schlimmsten Leute auch gelesen, und wenn ich da in einer Diskutierrunde säße,
würde ich schon versuchen irgendwie falsch zu singen. Ich dreh es jetzt einmal
in diese Richtung. In einer der ersten TzK-Ausgaben wurden zwei oder drei
gleichzeitig stattfindende Peter Fend-Ausstellungen besprochen und eine der
drei Hängungen wurde krebbersch oder krebberesque genannt. In der Zeit habe ich
mich ja auch so geäußert. Ich habe gesagt, das ist richtig und das ist falsch
bzw. schön und gut, und die falsche Schraube für eine Installation ausgesucht
zu haben, konnte eine Ausstellung, die ich inhaltlich gut gefunden hätte, zu
einer schlechten machen bzw. die Unfähigkeit so eine Schraube überhaupt zu
erkennen. Ich habe da ein System entdeckt, dass da wirklich leider schlechter
Geschmack angelegt war. Nicht bloß die falsche Schraube war ausgesucht worden,
sondern das Ganze war quasi ein System, in dem schlechter Geschmack angelegt
war. So habe ich gedacht. Ich habe damals auch einmal Andrea Fraser versucht zu
erklären, warum mir so etwas wichtig sei. Sie hat mit den Achseln gezuckt und
gemeint, dass diese ästhetischen Dinge für sie eh immer da wären, da müsse sie
sich nicht drum kümmern – so habe ich das jedenfalls verstanden. Und so könnte
ich das auch heute verstehen. Bloß von so einer Haltung gibt es viele Vertreter
oder Verkäufer und ich versuche einfach aufzupassen. Ob moralisch oder
unmoralisch? Ich könnte einen Standpunkt wie den von Martha Rosler einnehmen.
In einem standardisierten Internet-Interview lautet die letzte Frage jeweils
etwa so: was wünschen sie sich für die Kunst? Ihre Antwort lautet: dass wir vor
dem Geschmack der Connaisseure bewahrt werden. Die Art von Connaisseuren,
Produzenten, Händlern und Spekulanten, die ich mir jetzt mal vorstelle, wüssten
allerdings, dass es immer noch die Ebene hinter der Ebene gibt, also dass mit
dem doppeltem Boden gespielt wird, und dass unter dem doppelten Boden
also noch ein dritter Boden wäre. Berücksichtigt man dies, dann wird es
professioneller und eigentlich auch ehrlicher. Nur fehlt mir jetzt dazu das psychologische
Handwerkzeug.
Draxler: Wenn ich das mit dem doppelten Boden richtig verstehe, dann würde das
ja heißen, dass wir trotz des Geschmacks der Connaisseure und Spekulanten an
der Instanz des Geschmacks festhalten sollten, weil sie auf eine gewisse Art
und Weise unvermeidlich ist. Auch dort, wo sie abgelehnt wird, ist sie mit im
Spiel. Dann gleich lieber offensiv damit umgehen. Doch damit spitzt sich die
Frage nur zu. Denn Geschmack hat immer eine soziale, gemeinschaftsbildende und
gleichzeitig eine abgrenzende und ausschließende Funktion, nämlich die
Distinktion, wie sie Bourdieu analysiert hat. Und da stellt sich dann die
Frage, zu welcher Seite man eher gehören will, zu den Connaisseuren und
Spekulanten oder zu denjenigen, die auf den Geschmack ganz verzichten wollen?
Welche Seite interessiert dich eigentlich mehr, die sozial integrierende oder
die ausschließende?
Krebber: Bourdieu habe ich nicht gelesen, aber ich verstehe ja alles was du
ansprichst oder bilde es mir zumindest ein. Ich könnte gerne auf „Geschmack“
ganz verzichten – warum nicht, er ist ja eh immer da. Ich würde aber bei dieser
Formulierung bleiben, dass etwas nach meinem Geschmack gut oder schön ist und
in meiner Aufreihung sind auch die Rollen gemischt, der Connaisseur ist
gleichzeitig Spekulant und umgekehrt etc. Mich interessiert ein sozial
integrierendes Verhalten tatsächlich – uneigennütziges, eigennütziges Verhalten
ist ja genauso immer da und ebenso das abgrenzende und ausschließende, aber vor
allem auch das unterwandernde ist genauso Genuss bzw. ein sehr nützliches und
unter Umständen auch lustiges Handwerkszeug. Ich mag nicht so sehr einen
Connaisseur, der sich Connaisseur nennen kann, aber ich weiß nicht, was gegen
die Idee des Connaisseurs spricht, außer – das hat mir Martha Rosler mal gesagt
– dass diese Vorstellung an eine bestimmte Klasse gebunden sei. Wie ich das
Wort verstehe bzw. was ich mir darunter vorstelle, da wäre es nicht an eine
Klasse gebunden. Natürlich gibt es klassenspezifischen guten Geschmack oder
Geschmack überhaupt, aber eben auch einen Dandyismus der Armen. Hier würde ich
noch „Stil“ einwerfen wollen, in der Bedeutung wie zum Beispiel ein bestimmtes
Kleidungsstück genau getragen wird, mit welcher Körperbewegung dazu und welchem
Gesichtsausdruck: Solche Arten von Klassen! und je ausgrenzender desto besser.
Das kann letztlich nur eine Person sein und die Klasse, die sich bildet, die
kommt da gar nicht mit. Ich möchte auch kein Fan von Schlägergruppen sein, aber
das kann trotzdem eine schöne Vorstellung sein, wenn Stil hart und konsequent
gehalten wird, dass niemand reinkommt. Bloß als Vorstellung wäre das rein - und
ohne Adidas und Nike - und in der Kunst gibt es so etwas ja auch. Mich
interessiert auf jeden Fall beides, eine sozial integrierende und eine
ausschließende Gruppe, zu welcher von beiden ich auch gehöre - wohl zu einer
weicheren, formal nicht so autoritären Gruppe, auch weil ich das gar nicht
kann. Und das genieße ich nicht wirklich.